Aktiv auf den Nachwuchs im Handwerk zugehen
Unter dem Leitmotiv "Handwerk fragt nicht, wo Menschen herkommen, sondern wohin sie wollen" verdeutlicht Susanne Haus die herausragende integrative Leistung des Handwerks: Das Handwerk ist für alle offen und heißt alle willkommen - ungeachtet von Schulabschluss, Studienzweifler, Vorbildung oder Herkunft. Und: Handwerk geht aktiv auf die Menschen gerade der "Generation Z" zu - mit Imagekampagnen, Social-Media-Ansprache, Begegnung in den Schulen und Beratung in den Universitäten. Ziel ist es, verfestigte Vorurteile aufzubrechen und die jungen Menschen so zu ermutigen, das Handwerk als Teil der Karriereplanung zu sehen.
Hessenschau: Hessen fehlen 14.000 Azubis yourPUSH
Ausbildung über den Tellerrand hinaus
Dabei schafft das Handwerk viele Perspektiven, die man eher aus dem akademischen Bereich kennt, wie zum Beispiel Auslandsaufenthalte während der Ausbildung. Hier unterstützt die Kammer durch die Mobilitätsberatung oder hilft bei verschiedenen Erasmus-Angeboten.
Mobilitätsberatung
Wo gibt´s konkrete Verbesserungsansätze?
Gleichzeitig verdeutlicht die Kammerpräsidentin, wo Unterstützung notwendig ist, damit das Handwerk seine wichtigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufgaben erfüllen kann. Besonders wichtig sind ihr die Themen Bürokratieabbau, Hilfe zur Überwindung von Sprachbarrieren bei Zuwanderern oder die enge Begleitung der Betriebe bei der Digitalisierung.

Kammerpräsidentin Susanne Haus im Interview mit der Frankfurter Neue Presse
Frankfurts Handwerker suchen verzweifelt Auszubildende: „Die jungen Leute kommen lebensuntüchtig aus der Schule“

Susanne Haus (51) hat in ihrem Betrieb eine Meisterin angestellt, die jetzt ihre Aufgabe übernimmt - denn Haus braucht viel Zeit für ihr Ehrenamt als Präsidentin der Handwerkskammer Frankfurt Rhein-Main. Im Schnitt drei Tage in der Woche sei sie für die Handwerkskammer unterwegs, sagt sie. „Ich mache es total gerne, bin 150-prozentig vom Handwerk überzeugt“, sagt sie. Die Handwerkskammer Frankfurt Rhein-Main ist die größte der drei Kammern in Hessen. Rund 20 Milliarden Euro machen die 33. 293 Betriebe des Kammerbezirks an Umsatz, beschäftigen insgesamt rund 160. 000 Menschen, 8.500 davon sind Auszubildende. Rund jedes vierte der Unternehmen (7.334) ist in Frankfurt ansässig. © enrico sauda
Von: Thomas J. Schmidt
Susanne Haus, Präsidentin der Handwerkskammer, spricht im Interview über Nachwuchssorgen und fehlende Kompetenzen
Susanne Haus ist Präsidentin der Handwerkskammer Frankfurt Rhein-Main mit 7.334 Betrieben in Frankfurt. Fast überall werden noch Lehrlinge gesucht, und das, obgleich das Ausbildungsjahr bereits am 1. August begonnen hat. Trotzdem könnten interessierte Azubis noch einsteigen, versichert Haus im Interview.
Frau Haus, hat das Handwerk genug Lehrstellen besetzen können?
Zum 31. Juli haben wir im Vergleich zum Vorjahr im Kammerbezirk 13 Prozent mehr Lehrstellen besetzt: 2.355 neue Azubi-Verträge sind hinzugekommen. Damit sind die Vor-Corona-Werte zwar noch nicht erreicht, aber wir sind auf einem guten Weg.
Corona war ein so großer Einschnitt - warum?
Während der Pandemie hat die klassische Berufsorientierung nicht stattfinden können. Wir haben das bei aller Anstrengung nicht kompensieren können.
Was für Anstrengungen haben Sie denn unternommen?
Wir haben beispielsweise eine 360 Grad-VR-Brille entwickelt. Mit dieser, einem Smartphone und einem QR-Code kann man sich Ausbildungsfilme auf das Smartphone herunterladen und sich dann über verschiedene Berufe informieren. 30 Filme sind von Azubis gedreht worden. 20 000 solcher Brillen sind bereits verteilt worden, in ganz Hessen.
Es gibt Berufsbildungsmessen, die ich beispielsweise mit meinem eigenen Unternehmen schon besucht habe. Es gibt aber auch das Programm „Azubibotschafter“, bei dem Azubis in die Schulklassen gehen und die Fragen der Schüler zum Ausbildungsberuf in eigenen Worten und aus eigener Praxiserfahrung beantworten. Das ist ein herausragendes Engagement dieser Azubis, die an dieser Aufgabe wirklich wachsen. Es macht ihnen Spaß, und es sind schon einige Ausbildungsverträge auf diese Weise entstanden. Wir haben ein Sommercamp für Schüler angeboten und haben einen Bus ausgerüstet, „Xperience Handwerk on Tour genannt. Man kann dort virtuell schweißen, mauern, Schreinerarbeiten erledigen. Mit dem Bus kann man zu Schulen fahren, zu Berufsmessen oder sonstigen Infoveranstaltungen in Rhein-Main.
Trotz aller Anstrengungen ist es nicht gelungen, alle Ausbildungsstellen zu besetzen?
Nein. Es sind noch mehr Stellen offen, als wir besetzen konnten.
Wie viele Berufe vertreten Sie denn als Handwerkskammer?
Es gibt mehr als 130 Ausbildungsberufe in verschiedensten Branchen. Für 53 Berufe ist ein Meisterabschluss Voraussetzung für die Selbstständigkeit, für die übrigen Gewerke ist dies nicht notwendig. Das Handwerk ist breit aufgestellt: Es gibt Augenoptiker, Maßschneider, Schuhmacher, Brauer, Instrumentenbauer, Elfenbeinschnitzer, Brunnenbauer, Gerüstbauer, Ofenbauer, Steinmetz, Büchsenmacher, Bootsbauer, Böttcher, Modellbauer, Sattler, Konditor, Bestattungsfachkraft, Buchbinder, Glasapparatebauer, etc. etc. bis hin zum Zupfinstrumentemacher.
Die Nachfrage nach Gesellen ist sicher ganz unterschiedlich, und es ist von der Branche abhängig, ob man die Lehrstellen besetzen kann?
Ja, es ist unterschiedlich. Kfz-Mechatroniker, Friseurhandwerk, Heizungsbauer sind bei jungen Leuten gefragt. Hingegen haben es die Lebensmittelhandwerke schwer, also Bäcker und Metzger, aber auch das Bauhandwerk hat zunehmend Probleme, alle Lehrstellen zu besetzen.
Die jungen Menschen, die sich für eine Ausbildung entscheiden, haben manchmal nicht mehr die praktischen Grundfähigkeiten, die früher noch geläufig waren. Die Praxiskenntnis fehlt oft völlig. Es sind ganz einfache Dinge, an denen man merkt, dass da jemand noch nie einen Akkuschrauber in der Hand hatte. Da fehlt der Werkunterricht in die Schulen. Schon Grundschüler können heutzutage keine Knoten mehr machen. Die jungen Leute kommen lebensuntüchtig aus der Schule, weil sie nichts aushalten mussten, mit nichts konfrontiert wurden. Es gibt selbstverständlich auch viele Ausnahmen, aber grundsätzlich haben wir es als Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten ein wenig verlernt, junge Menschen intensiv auf das reale Leben vorzubereiten. Praktische Fähigkeiten gehören da klar dazu.
Wie ist es mit Geflüchteten?
Im Jahresvergleich sind aktuell 20 Prozent weniger Ausbildungsverträge mit Menschen abgeschlossen worden, die aus den Hauptfluchtländern kommen. Ich selbst habe einen jungen Mann aus Eritrea ausgebildet und habe zurzeit einen jungen Ukrainer, der bei mir arbeitet. Meine Erfahrung lautet: Wenn die Sprache funktioniert, ist der Rest auch zu schaffen. Auch wenn alle - Betrieb wie Azubi - sich noch mehr anstrengen müssen als sonst.
Wie verhält es sich mit dem Aufenthaltsstatus?
Der eritreische Mitarbeiter kann bleiben. Ob der junge Mann aus der Ukraine bleiben wird, wenn der Krieg zu Ende ist, weiß ich nicht. Aber lassen Sie mich nicht nur von mir reden: Ich war unlängst bei einem Betriebsbesuch in einer Klempnerei. Sie haben einen Afghanen ausgebildet, der jetzt immer noch keinen Aufenthaltsstatus hat. Die Behörden müssen schneller werden, müssen geschmeidiger werden. Wenn junge Leute ihre Ausbildung absolviert haben, und wir brauchen sie da dringend, dann müssen die Behörden die notwendigen Entscheidungen rasch treffen. Es kann nicht sein, dass über einem familiären Handwerksbetrieb und dem Mitarbeiter das Damokles-Schwert der Abschiebung schwebt.
Wenn Sie Bewerber haben, die aus dem Umland kommen und nicht aus Frankfurt - müssen Sie als Betrieb oder als Kammer nicht auch für Wohnraum sorgen, für ein Job-Ticket, für ein kleines Auto?
Krankenschwestern oder Bäcker können oftmals nicht mit Öffentlichen fahren, weil die morgens um drei nicht verkehren. Azubi-Wohnheime sind aus diesem Grund wichtig. In der Nähe der Berufsschulen brauchen wir Wohnheime, und wir sind da dran. Wir haben mit anderen lokalen und regionalen Wirtschaftskammern und Gewerkschaften hierzu eine Studie in Auftrag gegeben. Resultat dieser Studie: Der Bedarf ist ganz klar da. Jetzt müssen gemeinschaftlich Modelle entwickelt werden, wie das realisiert werden kann.
Und die Verkehrspolitik?
Die Rahmenbedingungen sind schwierig. Betriebe, die an Straßen liegen, wo jetzt der Straßenraum bewirtschaftet wird, haben nun noch größere Probleme. Einige, auch größere Betriebe gehen ins Umland. Und sie kommen nicht zurück. Das Einpendeln wird immer schwieriger, und die Kunden sind nicht bereit, dies zu bezahlen.
Nehmen wir mal ein praktisches Beispiel. Nehmen wir an, der Peter, 16 Jahre alt, hat keinen Bock mehr auf die Schule. Könnte er jetzt noch eine Ausbildung beginnen?
Das kann er sicher, überall. Zuerst muss er wissen, was ihn interessiert. Dafür kann er sich über die Kammer oder die Agentur für Arbeit Praktika vermitteln lassen. Nehmen wir an, er möchte Augenoptiker werden. Das Beste wäre dann, dass er initiativ wird. Also bei einem Unternehmen in seiner Nachbarschaft anfragt, ob er ein Praktikum machen kann. Man kann auch über lehrstellen-radar.de zu Hause schauen, was innerhalb des Wunsch-Gewerks im Wohnort-Umkreis angeboten wird.
Könnte man nicht im Handwerk eine Art Studium Generale anbieten? Dass man mal ein paar Wochen Lebensmittel, ein paar Wochen Bauwesen, ein paar Wochen Schreiner kennenlernt?
Das müsste schon in der Schule vor der Berufsbildung angeboten werden. Es gibt so viele Berufe im Handwerk, von Gitarrenbauer und Böttcher über Elfenbeinschnitzer bis hin zu Bestatter - das wissen ja viele gar nicht. Das Handwerk muss wieder Teil der Gesellschaft werden, es hat mehr Wertschätzung verdient. Es ist spannend zu sehen, was im Handwerk alles möglich ist und was sich verändert und modernisiert hat - vom 3D-Drucker im fertigenden Handwerk bis hin zu Drohnen beim Dachdecker. Die Betriebe haben so viel Kompetenz und sind bestrebt, ihr Wissen weiterzugeben. Sie suchen Leute, die das Wissen aufsaugen. Das wäre eine Win-Win-Situation.
Es gibt das demographische Problem mit immer weniger Schulabgängern, es gibt den Trend hin zum Abitur und dem Studium. Haben Sie eine Chance, die jungen Leute zum Handwerk zu bringen?
Wir arbeiten ja mit der Goethe-Universität zusammen, um jungen Leuten, die Zweifel an ihrem Studium haben, eine Alternative im Bereich der dualen Ausbildung aufzuzeigen. So habe ich jüngst mit einem Zimmerer-Meister gesprochen, der so glücklich ist mit seiner Entscheidung, das Bauingenieursstudium aufzugeben. Er sagt, ich mache jeden Tag etwas anderes und habe am Ende des Tages etwas geleistet, was dauerhaft ist. Also, es gibt viele Möglichkeiten. Man kann ja auch umgekehrt mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung studieren, ohne Abitur. Und die Finanzen sind mitunter auch besser, über die Lebenszeit betrachtet, wenn man früher anfängt zu arbeiten, statt Jahre später, oft mit Schulden, ins Berufsleben zu starten. Auch bekommt man ja in einer Ausbildung schon etwas Geld.
Wie ist es denn mit der Ausbildungsvergütung? Ist sie nicht zu gering?
Friseure beispielsweise gelten ja als schlecht bezahlt. Die Mindestausbildungsvergütung beginnt mit 620 Euro. Das mag nicht viel sein. Trotzdem: Der Friseurberuf steht an Nummer eins bei den jungen Frauen. Es geht nicht immer nur ums Geld. Wichtig ist auch: Was trägt mich durchs Leben. Natürlich muss auch das Geld stimmen. Aber wer sich einen Haarschnitt für 15 Euro verpassen lässt, darf sich nicht wundern, wenn auch die Lehrlinge und Gesellen nicht viel verdienen. Denn: Die Zahlungsbereitschaft der Endverbraucher hat einen wesentlichen Einfluss auf Preis- und Lohngestaltung im Handwerk.
Könnte denn der Bäcker oder der Metzger die Ausbildungsvergütung erhöhen?
Bäcker haben gerade ihre Ausbildungsvergütung erhöht, um ein Zeichen zu setzen: Wir wollen gutes Geld zahlen. Andererseits haben auch die Bauhauptgewerbe beispielsweise eine sehr hohe Ausbildungsvergütung von mehr als 1.000 Euro pro Monat im ersten Lehrjahr. Also, das ist schon was. Ich bin dagegen, alles über einen Leisten zu schlagen. Friseure bekommen weniger als Bauhandwerker wie Maurer, trotzdem ist es ein beliebter Beruf, während Maurer gesucht werden. Es gibt nicht die eine Lösung und die eine Ausbildungsvergütung. Das ist im Studium doch auch nicht so: Da gibt es den Philosophiestudenten und den Juristen, der später Notar wird. Ich mag das nicht, dass alles über einen Leisten geschlagen wird. Wichtig ist, das zu finden, wofür am Ende das Herz schlägt. Wenn ich neugierig bin und Expertise entwickle, bin ich am Ende da, wo ich sein wollte. Den jungen Menschen muss die Chance gegeben werden, Dinge kennenzulernen, die sie noch gar nicht kennen. Dafür ist die Berufsorientierung da, und ich würde mir wünschen, dass die Gymnasien mehr für die Berufsorientierung in Richtung Handwerk tun.
Sie stehen ja als Handwerk in Konkurrenz um Auszubildende. Da ist die Industrie - in Frankfurt etwa die Chemie, da sind die Dienstleister wie Verkauf, es gibt das staatliche Sozialwesen mit den Krankenpflegern etc. Gegen wen müssen Sie denn mit den härtesten Bandagen kämpfen?
Also ich würde mit breiter Brust sagen, dass wir als Handwerk uns nicht verstecken müssen. In meinem Unternehmen in Bischofsheim haben wir durch die geografische Nähe zum Opel-Werk immer zu tun mit der Abwerbung durch die Industrie. Natürlich können die mehr zahlen als wir. Andererseits haben wir im Handwerk eine familiäre Atmosphäre und bieten jedem ein hohes Maß an Eigenverantwortung, und wir finden unsere Mitarbeiter trotz der Industrie.
Und wie stehen die Aufstiegsmöglichkeiten im Handwerk?
In den nächsten Jahren stehen durch den demographischen Wandel eine Menge Betriebe zur Übergabe an. Wenn die eigenen Kinder es übernehmen, sind alle zufrieden. Aber wenn dies nicht der Fall ist, ist jeder Unternehmer froh, wenn er einen Meister oder eine Meisterin findet, der oder die es übernimmt. Mit allen Chancen, mit allen Risiken, als freier Unternehmer sein Geld verdienen, das ist sehr reizvoll. Wenn diese Übernahme nicht gelingt, verschwindet viel Erfahrung, viel Expertise der alten Handwerker, und das wäre für die Gesellschaft schade.
Bei Ihnen war es ja auch so, Sie haben den elterlichen Betrieb übernommen, nicht wahr?
Ja. Ich habe klassisch Abitur gemacht und anschließend eine Lehre begonnen. Meine Lehrer hatten wenig Verständnis. Aber ich konnte ja in den Familienbetrieb einsteigen. Ich habe dann meinen Meister gemacht, meinen Restaurator, ich bin Betriebswirtin im Handwerk und öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige. Man hat auch ohne Studium so viele Möglichkeiten - und am Ende kann man auch Präsidentin der Handwerkskammer werden.
Und Sie könnten den Peter noch anstellen, oder haben Sie Ihre Lehrstellen alle besetzt?
Ich hatte eine sehr gute Auszubildende, eine Frau, die jetzt ins zweite Lehrjahr gekommen wäre. Leider musste sie die Ausbildung aus gesundheitlichen Gründen abbrechen. Das ist sehr schade, sie war sehr gut. Zurzeit habe ich einen jungen Mann aus der Türkei, den ich anlerne. Er prüft noch, ob er danach eine Ausbildung machen möchte. Also, im Prinzip habe ich eine Ausbildungsstelle frei und könnte den Peter anstellen, wenn er Maler werden will und bereit ist, nach Bischofsheim bei Mainz zu kommen.